Hören wir mit anderen Ohren?

Eine Entdeckungsreise in die deutsch-französische Musik

2014 und 2015 veranstaltete der Deutsch-Französische Fonds für zeitgenössische Musik "Impuls Neue Musik" in Zusammenarbeit mit dem Institut Français in Berlin eine prominent besetzte 8-teilige Diskussionsreihe, in welcher der Moderator Uli Aumüller mit seinen Gesprächspartnern versuchte, den Gemeinsamkeiten und Unterschiede der deutschen und französischen Musiklandschaften auf die Spur zu kommen. Welche Bedeutung, welchen Stellenwert hat klassische und zeitgenössische Musik diesseits und jenseits des Rheins, wird Musik hier und dort anders gehört, bedient die Musik verschiedene Bedürfnisse und Erwartungen? Welches Repertoire kommt zur Aufführung, welche Ausbildungs- und Fördereinrichtungen gibt es? Und welche Neuerungen und Traditionen der Nachbarn wurden im eigenen Land übernommen, welche ignoriert?
Uli Aumüller gibt in seiner zweiteiligen Hörfunk-Sendung einen Überblick über die Ergebnisse der rund 20-stündigen Diskussionen.

Mit Brice Pauset, Komponist, Iris ter Schiphorst, Komponistin, Herbert Schneider, Musikhistoriker, Ulrich Mosch, Musikhistoriker, Mathieu Schneider, Musikhistoriker, Christian Zanesi, Ina GRM, Detlef Heusinger, Experimentalstudio des SWR, Martin Zenck, WDR, Mark Andre, Komponist, Manos Tsangaris, Komponist, Martin Kaltenecker, Musikschriftsteller , Jean-Luc Hervé, Komponsit, Heiner Goebbels, Komponist, Eric Denut, Musikbeauftragter beim französischen Kulturministerium, Jörg Mainka, Hochschule für Musik Hanns Eisler, Henry Fourès, Komponist, Wolfgang Rihm, Hochschule für Musik, Karlsruhe, Pascal Dusapin, Komponist


Konzept: Sophie und Uli Aumüller








Pressetext zu der Gesprächsreihe

Hören wir mit anderen Ohren?
Eine Entdeckungsreise in die deutsch-französische Musik


2013 wurde diesseits und jenseits des Rheins 50 Jahre Elysée-Vertrag und damit 50 Jahre deutsch-französische Freundschaft gefeiert. Doch wie ist es um diese Freundschaft in der Musik bestellt ist? Gibt es ein beiderseitiges Verständnis? Hat man sich wirklich etwas zu sagen? Oder gibt es vielmehr nationale Unterschiede in der Musik? Merkwürdigerweise wird oft noch mit alten Klischees argumentiert. Musik aus Deutschland gilt als schwer und verkopft, an französischen Werken wird hierzulande das gut Gemachte gelobt, die écriture, das perfekte Handwerk, aber die Werke scheinen in deutschen Ohren oftmals leer zu klingen. Werden sie einfach nicht verstanden? Kann ihr Code nicht dechiffriert werden?

Woher dies alles kommt, soll in einer neuen Gesprächsreihe im Institut Français Berlin hinterfragt werden. Komponisten und Musikwissenschaftler, Programm¬macher und Musikexperten werden sich über die beliebtesten Klischees, die fruchtbarsten Missverständnisse und die wichtigsten Gemeinsamkeiten unterhalten. Was war an dem Unterschied zwischen einem Cembalo und einem Clavichord so wichtig und welche Folgen hat das bis heute? Wie viel Französisches steckt in Wagner und wem gehört die elektroakustische Musik?

Die sogenannte Neue Musik ist im Wesentlichen ein Genre, das in Frankreich und Deutschland seine Wurzeln hat bzw. sich im Spannungsfeld deutsch-französischer Bezüge entwickelte. Die Gesprächsreihe wird die wichtigsten Gemeinsamkeiten und Gegensätze dieser deutsch-französischen Musikgeschichte skizzieren. Es sollen aber auch Unterschiede der Ausbildung, des Musikbetriebes, der Ästhetiken aufgezeigt werden, die eine Übersetzungsarbeit unterschiedlicher Codes von dem einen in das andere Land notwendig erscheinen lässt.

Die Abende werden von dem Filmregisseur und Autor Uli Aumüller (inpetto filmproduktion) moderiert, der soeben ein Filmportrait von Mark Andre fertiggestellt hat. Musik- und Filmbeispiele werden den Abend mit gestalten, am 21. Januar spielt das Ensemble KNM Berlin.


1. Teil: 4. September 2014
1750 bis 1828: Die Geburtsstunde bürgerlicher Kunstmusik

Die höfische Musikkultur mit ihrem Zeremoniell, ihren Riten und Affektenlehren wird abgelöst durch eine Musik, die „tiefe Empfindungen“ und „echte Gefühle“ zeigt. Der Slogan heißt: Zurück zur Natur. Der neue Ort für diese neue Musik ist nicht mehr der Hof oder das Hoftheater, sondern der bürgerliche Konzertsaal, in dem sich neue Verhaltensweisen etablieren. Während in Deutschland dieser Wandel in Kooperation mit den adligen Führungseliten stattfindet und zu einer flächendeckenden Verbürgerlichung der Hofkultur führt, bringt in Frankreich der radikale Schnitt der Revolution eine vollständige Neustrukturierung der Musikkultur unter frühkapitalistischen Bedingungen mit sich.

Moderation: Uli Aumüller
Gesprächspartner: Brice Pauset, Hochschule für Musik Freiburg, Iris ter Schiphorst, Universität der Künste Berlin; Prof. Herbert Schneider, Mainz –

2. Teil: 10. Oktober 2014
1789 – 1914: Konzertsaal und nationale Identität

In Deutschland entsteht schon zu Beginn des 19ten Jahrhunderts eine Fülle regionaler kultureller Aktivitäten mit Theatern, Opernbühnen und Konzertpodien. Sie bilden die Grundlage für die größte Theater- und Orchesterdichte bis zum heutigen Tage weltweit. Diesen Musikmarkt beliefern Komponisten wie Mozart, Beethoven, Schubert, Brahms und Wagner. Sie werden zu Ikonen nationaler Identität, ihre Werke finden im Laufe des Jahrhunderts Eingang in den Kanon klassisch-romantischer Musik.
In Frankreich dagegen konzentriert sich das Musikleben auf die Kapitale Paris. Dieser einzigartige großstädtische Musikbetrieb basiert im Vergleich zu Deutschland auf vollkommen anderen Produktionsbedingungen und Bedürfnissen. Aber warum ist vom Repertoire französischer Musik des 19ten Jahrhunderts abgesehen von Bizet und Berlioz so wenig in den deutschen Kanon übernommen worden? Und warum werden die Werke französischer Komponisten dieser Zeit auch heute in Frankreich so selten gespielt?
Hat das etwas damit zu tun, dass sich ausgehend vom protestantischen Norden in Deutschland ein schweigendes Publikum in Konzertsaal und Oper etablierte, das den Musikaufführungen in fast religiöser Andacht lauschte, wohingegen das urbane Pariser Publikum in erster Linie von der Musik unterhalten werden wollte und sich auch selbst unterhielt, die Komponisten in Frankreich also mit ganz anderen sozialen Rahmenbedingungen konfrontiert waren als ihre deutschen Kollegen? Oder handelt es sich bei dieser Vermutung wiederum nur um einen Nachhall antifranzösischer, deutscher Propaganda, einen Nebenschauplatz der deutsch-französischen Kriege von 1870/71, von 1914 bis 1918 oder von 1939 bis 1945? Deutsche Tiefe versus französische Oberflächlichkeit?

Moderation: Uli Aumüller
Gesprächsteilnehmer: Ulrich Mosch, Université de Genève, Mathieu Schneider, Université de Strasbourg


3. Teil: 4. November 2014
1977 – 2013: Elektroakustische Musik diesseits und jenseits des Rheins

Kurz nach dem 2. Weltkrieg begann der Komponist und Toningenieur Pierre Schaeffer in den Studios des Französischen Rundfunks an einer Musik zu arbeiten, die nur mit den technischen Möglichkeiten der Klangmanipulation auf der Grundlage „konkreter“ Geräuschaufnahmen auf Schallplatte und später mit Tonbandgeräten entstand. Daraus entstand 1958 die Groupe de Recherches musicale (GRM), die bis heute fortbesteht. 1951 wurde auch auf der anderen Seite des Rheins ein Studio für elektronische Musik in den Kölner Räumen des WDR gegründet. 1977 folgte in Paris die Eröffnung des IRCAM – der weltweit wohl größten Forschungseinrichtung für den Einsatz elektronischer und digitaler Techniken. 1971 nahm das „Experimentalstudio der Heinrich-Strobel-Stiftung“ in Freiburg seinen Betrieb auf. Liest man die Selbstdarstellungen dieser Institutionen im Bereich Neuer Musik und Elektroakustik, fühlt man sich oft in den Anfang des 19ten Jahrhunderts zurückversetzt und an die musikästhetischen Ideen von E.T.A. Hoffmann oder Héctor Berlioz erinnert. Hoffmann etwa fabulierte über den „Wunderraum der Klänge“ (bei Beethoven), der seine Zuhörer in ein „akustisches Zauberreich“ entführe, das er auch mit religiösen, transzendentalen Qualitäten ausstattete. Ähnliche Begriffe verwenden die elektroakustischen Studios noch heute – vielleicht weil sie 200 Jahre nach Hoffmann und Berlioz, 100 Jahre nach Wagner hoffen, deren musikalische Träume mit den unendlichen Möglichkeiten neuester Klangtechnologie einlösen zu können. Aber besteht tatsächlich noch ein Spielraum für neue Klänge oder gar Klangwelten, besteht die Notwendigkeit für ein neues Hören? – Und überhaupt: Haben Franzosen und Deutsche in Sache elektroakustischer Musik andere Ohren, bei deren Erfindung die Franzosen die Nase eindeutig vorne hatten?

Moderation: Uli Aumüller
Gesprächspartner: Detlef Heusinger, Experimentalstudio des SWR, Christian Zanési, Ina GRM


4. Teil: 4. Dezember 2014
1948-2013: Musique concrète auf Deutsch

Bereits 1943 begann der Komponist und Ingenieur Pierre Schaeffer mit ersten Experimenten, auf der Basis von Originaltonaufnahmen Musik zu gestalten. Die von ihm so genannte musique concrète bildete mehrere Schulen aus, die auf das französische Musikleben einen großen Einfluss ausüben. Noch heute kommt in Frankreich ein Komponist von Rang und Namen ohne ein Jahr der Forschung oder Ausbildung im GRM oder IRCAM in seiner Vita nicht aus. Michel Chion hat deren Geschichte von Anfang an als Theoretiker begleitet. In Deutschland hingegen hat diese Musik längst nicht in vergleichbarem Umfang eine Förderung erfahren – abgesehen von ihrer Resonanz in der Clubkultur. Helmut Lachenmann wurde berühmt, als er die Denkweisen der musique concrète auf Spiel- und Kompositionstechniken für traditionelle Musikinstrumente übertrug – der von ihm sogenannten musique concrète instrumentale. Aber beruht sein Bezug auf die musique concrète nicht möglicher Weise auf einem Missverständnis? Ein produktives Missverständnis vielleicht, das viele Nachahmer und Schüler gefunden hat. Darüber wird Harry Vogt, der Redakteur für Neue Musik beim WDR und Festivalleiter der Wittener Tage für Neue Kammermusik aus erster Hand erzählen können. Und in dem in Berlin lebenden Komponisten Mark Andre werden aktuell beide Entwicklungen, die deutsche und die französische, vereinigt: Elektroakustik und musique concrète instrumentale.

Moderation: Uli Aumüller
Gesprächspartner: Martin Zenck, WDR, Mark Andre, Hochschule für Musik Dresden.

5. Teil: 21. Januar 2015
2013 – 2050: Neue Debatten, alte Klischees

In Deutschland werden Töne laut, dass sich alles ändern müsse und sich so und so schon alles geändert hat, durch das Internet, durch veränderte Hörgewohnheiten. Die neue Musik, wie es sie einmal gab, habe abgewirtschaftet. Diskutiert werden Begriffe wie „Gehaltsästhetische Wende“, „Diesseitigkeit“, „Neuer Konzeptualis¬mus“… - die Generation jüngerer Komponisten will eine neue Epoche einläuten, die Epoche nach der neuen Musik. Und in Frankreich bereitet man sich auf den Tod des alten Königs vor und es beginnt das Tauziehen, wer der neue wird, nach Boulez. Natürlich soll erst einmal alles über den Haufen geworfen werden, wofür bisher der Name Boulez steht, ein Anti-Boulezimus. Es soll also wieder tonal komponiert werden, mit sangbaren Melodien und für (und nicht gegen) das Publikum. Doch warum haben es die jungen Komponisten im jeweils anderen Land besonders schwer, aufgeführt, geschweige akzeptiert zu werden? Inwieweit ähneln sich die gegenwärtigen Diskussionen – worin unterscheiden sie sich? Wir führen dieses Gespräch mit zwei Komponisten und Kompositionslehrern aus beiden Ländern – und dem ausgewiesenen Spezialisten der Musikgeschichte und der Geschichte des Hörens in beiden Ländern Martin Kaltenecker.

Moderation: Uli Aumüller
Gesprächspartner: Manos Tsangaris, Hochschule für Musik Dresden/Münchener Biennale, Martin Kaltenecker, Université Paris VII
Es spielt das Ensemble KNM Berlin.


6. Teil: 19.Mai 2015
Uraufführungen um jeden Preis?
Macht und Ohnmacht der Musikfestivals

Welche Rolle spielen Festivals im internationalen Musikbetrieb, welches Publikum sprechen sie an, wer finanziert sie? Jedenfalls im Bereich der neuen Musik spricht man von einem Festivalkarussell in dem und für das ein neues Werk nach dem anderen produziert wird – und meistens nach der Uraufführung wieder in Vergessenheit gerät. Wo aber werden die Werke neuer Musik wieder aufgeführt – gibt es neben dem Hochgebirge der Festivals auch so etwas wie eine Ebene, das Abonnementkonzert, Konzertreihen für Liebhaber? Bei den meisten Festivals spielen multimediale Inszenierungen zunehmend eine Rolle, die zum Beispiel eine parallele Übertragung im Rundfunk unsinnig machen. Müssen Festivals aber in den Medien präsent sein? Und auch die Wiederholung solcher Ereignisse wird schwieriger, da sich nur Festivals solche Inszenierungen leisten können. Manche dieser Festivals haben sich zu wahren Publikumsmagneten gemausert – andere erreichen nur exquisite Fachkreise.

Der ehemalige Leiter der Ruhrtriennale Heiner Goebbels und der Musikwissenschaftler Eric Denut diskutieren über die gegenwärtige Lage der Festivals mit neuer Musik in Deutschland und in Frankreich.

7. Teil: Mittwoch, 3. Juni
Wie wird man Komponist?

Hochschule oder Conservatoire? Musikausbildung diesseits und jenseits des Rheins
Was lernen Kompositionsstudenten an einer deutschen Musikhochschule, was an einem Conservatoire in Frankreich? Welche Folge hat die Konzentration auf nur wenige angesehene Institutionen in Frankreich auf die französische Musikkultur? Auch in Italien wurden zum Beispiel die französischen Lehrpläne für angehende Komponisten übernommen – was sind deren grundsätzlichen Leitlinien? – In Deutschland hingegen scheint das Kompositionsstudium sehr von der Person des Lehrers abzuhängen und von seinen individuellen pädagogischen Fähigkeiten. Wie auch der Musikmarkt für Studienabgänger wesentlich vielgestaltiger zu sein scheint als der in Frankreich.
Welche Unterschiede in den Ausbildungssystem gibt es, welche Geschichte haben sie und welche Konsequenzen haben sie für das Musikleben in beiden Ländern?

mit Jörg Mainka, Hochschule für Musik Hanns Eisler und Henry Fourès, Komponist

8. Teil: Montag, 21. September 2015
Vom musikalisch Schönen
Reden über Musik in Deutschland und Frankreich

Das Reden über Musik hat in Deutschland eine lange Tradition, die bis in das 18. Jahrhundert zurückreicht. Seit Wilhelm Heinse und Johann Gottfried Herder, Jean Paul und E.T.A. Hoffmann wird unablässig diskutiert welche Geheimnisse sich hinter den „tönend bewegten Formen“ der Musik verbergen könnten. Die „Darstellung von Gefühlen“ ist nicht der Inhalt der Musik, meinte im 19. Jahrhundert der Wiener Musikkritiker Eduard Hanslick in seiner Ästhetik der Tonkunst „Vom musikalisch Schönen“. Aber wenn es nicht um Gefühle geht, um was geht es dann? Die berühmtesten deutschen Musikästhetiken des 20ten Jahrhunderts versuchen die Schönheit negativ zu fassen. Schönheit sei vergangen, zukünftig, aber nicht positiv zu bestimmen im Hier und Heute. Das 21. Jahrhundert ist in dieser Hinsicht nicht mehr so verkrampft und dogmatisch, hat von daher aber auch keine eindeutigen Antworten, was das „Schöne“ sein könnte in der Musik. Oder vielleicht doch? Welchen ästhetisch-philosophischen Diskurs gibt und gab es jenseits des Rheins? Und inwieweit ist das Reden über die Musik ein Teil der kompositorischen Prozesse?

mit Wolfgang Rihm, Hochschule für Musik, Karlsruhe und Pascal Dusapin, Komponist


Eine Reihe von Impuls neue Musik in Kooperation mit Institut Français und Ensemble KNM Berlin.
Mit Dank an die Medienpartner RBB Kulturradio und taz.






Cast & Crew

Regie
Uli Aumüller
Redakteur/in
Helmut Rohm