71 Eine kleine Bebung, die mich erschütterte

Essay zur Musik von Iris ter Schiphorst

Aus dem Tagebuch meiner Großmutter:
„Eine kleine Bebung, die mich erschütterte!“

Die Enkeltochter fragt ihre hochbetagte Großmutter, welche ihre Lieblingsmusik sei. Erst in ihrem Nachlass findet sie zahlreiche Notizen, die sich die Großmutter zur Beantwortung dieser Frage gemacht hat – rund um eine Komposition der Hamburgerin Iris ter Schiphorst – und beschließt, sie zu einem Radioessay umzuarbeiten.
Faszinierend an diesen Tagebucheinträgen ist vor allem die Sprechweise - das Wechselspiel zwischen blitzgescheiten, erfahrungsvoll aufleuchtenden Gedanken, die dann mit dem nächsten Atem wieder in sich zusammensinken können, eine manchmal herrische Borstigkeit, schwärzeste Übellaune, die in zärtlichste, mädchenhafte Töne umschwenken kann - und dann natürlich: Die Großmutter hatte keinen Grund mehr, noch auf irgendwen Rücksicht zu nehmen, was sie sagt, sagt sie, wie ihr der Schnabel gewachsen ist. Auf diese Weise entsteht ein Portrait eines Menschen, bei dem die Musik, die zeitgenössische Musik vor allem, einen Sitz im Leben hat. Das ist keine Kunst, die die Großmutter sich der Vollständigkeit halber auch noch antat, neben der "eigentlichen" Musik von Bach und den anderen Säulengenies - sondern es ist eine Kunst, die uns angeht, die etwas in uns rührt, das nur sie zu rühren vermag. Dieser Text beschreibt eine Frau, die sich aus diesem Grund intensiv mit Musik beschäftigt, weil sie spürt, dass sie etwas in ihr bewegt - und sie will sich selbst auf die Spur kommen, indem sie darüber nachsinnt, was es genau ist, was sie bewegt, wo und wie und wohin sie bewegt wird. Großmutter und Enkeltochter sind im Dialog miteinander, d.h. sie nutzen ihr Wissen, ihre Erfahrungen, ihre Beobachtungen, die nicht nur musikalische sind, um sie im Gespräch miteinander zu teilen und um genau diesen Fragen auf die Spur zu kommen. Dieser innige Dialog geht weit über die Konversationen hinaus, die gelegentlich der meisten Konzerte Neuer Musik stattfinden.

Anliegen des ungewöhnlichen Sendeformates (in diesem Fall "Tagebuch einer Großmutter) ist es also nicht, anders zu sein um des Außergewöhnlichen willen, sondern es geht darum, mit dieser Form (die der eigentliche Essays ist), eine Art von Unmittelbarkeit zu erzeugen, die mit anderen Sendeformaten, also zum Beispiel dem klassischen auktorialen Feuilletontext, nicht erreicht werden kann. Oder anders formuliert: das Thema (hier also der Identitätsbegriff) des Essays ist zugleich auch Gegenstand oder eigentlich Körper seiner Form. Die Großmutter, die sich von ihrer Identität verabschiedet, zum Zeitpunkt der Sendung schon tot ist, und die 20-jährige Enkeltochter, die ihre Identität erst noch sucht. Die Mutter dazwischen, die Komponistin, bleibt aus vielerlei Gründen aus diesem Dialog ausgespart.

Typoskript

Manuskript

Interview Wolfgang Scherer

Interview Iris ter Schiphorst

Kritik Süddeutsche Zeitung

Diese Produktion kann als CD zum Preis von 12,80 € bei der inpetto filmproduktion bestellt werden. Bitte schreiben Sie eine mail an: bestellungen@inpetto-filmproduktion.de

Cast & Crew

Regie
Uli Aumüller
Hauptdarsteller/in
Katharina Matz
Musik
Iris ter Schiphorst
Redakteur/in
Lydia Jeschke