Im Geboren-Werden stirbt die Musik
Radioessay von Uli Aumüller
Hilft uns Musik zu begreifen, worin Tod und Leben sich unterscheiden? - Radioessay
Patrick war 25 Jahre jung und half unsere Wohnung zu renovieren. Ein stattlicher junger Mann mit athletischem Körper. Plötzlich fällt er um und ist tot. Herzinfarkt. Als würde man mitten im Konzert den Stecker ziehen. Plötzlich Schweigen. Wir versuchen ihn wiederzubeleben. Beatmung. Herzmassage. Aber wie weit trägt eigentlich der Vergleich von Musik und Leben, von Tod und Stille. Im Geboren-Werden stirbt die Musik, sagte Wolfgang Rihm einmal, sie ist dem Vergehen anheimgegeben. Ist das in diesem Augenblick ein Trost? Ist die Flüchtigkeit der Musik der Grund, warum sie hilft, den Tod zu betrauern? Der Notarzt kommt. Er bringt das Herz wieder in Gang.
Weitere Radioproduktionen zu diesem Thema:
Einstand der Vergängnis - Radioessay über die Vergängnis der Zeit und die Erfahrung von Ewigkeit
Todeserfahrung in zeitgenössischer Musik
Musik & Natur
Filme zum Thema:
... zwei Gefühle ... von Helmut Lachenmann
Wenn Zahnräder Menschen sind ... - Das Klavierkonzert von György Ligeti
Ringen um die Gegenwart - Zur Oper "Wunderzaichen" von Mark Andre
Manuskript Anfang
„Patrick kaputt. Ambulanz!“ – einer der polnischen Handwerker kam in mein Büro gestürzt. Zusammen mit ihm renne ich zu der Baustelle. Patrick liegt mit hochrotem Kopf auf dem Boden, starrer Blick, die Augen fahl wie von einem toten Fisch. Der Mitarbeiter am anderen Ende der Notrufnummer beschreibt uns präzise, was zu tun ist. Herzmassage – Beatmung. Nach gefühlt 5 Minuten schnappt Patrick das erste Mal nach Luft – Hhhhhh - ich weiß es nicht genau, wieviel Zeit vergangen war – dann wieder 20 30 Sekunden nichts – dann der nächste Atemstoß. Hhhhhhh - Nach rund 10 Minuten trifft die Ambulanz ein – Notärtze, Sanitäter, Hubschrauber, Polizei … Irgendwie bringen sie das Herz wieder in Gang, Adrenalinspritze, Elektroschock … und Patrick wird abtransportiert. Danach Stille im Haus – gemeinsam sprechen wir auf Deutsch und auf Polnisch ein Vater Unser … ein Gebet, das wir alle kennen, das einzige … dann Stille. Wir weinen.
Mitten im Leben hört ein Herz – 25 Jahre jung – auf zu schlagen. Genauso alle anderen Prozesse im Körper, solange er am Leben ist. Die Atmung, die Nerven, die Hormone. Als würde man mitten im Konzert den Stecker ziehen – ein Musikstück abbrechen. Und dann? Ein bisschen Nachhall und betretenes Schweigen? Wie weit taugt der Vergleich von Musik und Leben, von Tod und Stille? Oder anders gefragt: Hilft uns Musik – und da insbesondere die zeitgenössische – um den Tod, der uns so fassungslos macht, zu betrauern? Oder anders gefragt: Hilft uns Musik zu begreifen, worin Tod und Leben sich unterscheiden? Das Wunder des Lebens besser zu verstehen?
Musik 1: IV. Streichquartett von Nikolaus Brass – 4.Satz
„Das Leben balanciert auf der Spitze des Todes“, schreibt der Lindauer Komponist Nikolaus Brass im Werkkommentar zu seinem vierten Streichquartett. Das Leben ein Balanceakt, stets absturzgefährdet, oder wie ein Tanz auf dem Vulkan – oder – wie die beiden Geigen aus dem 4. Satz dieses Quartetts ein Tanz gleich der Motten um das Licht, die jeder Zeit darin verbrennen können. Der Tod ist sozusagen das Ausrufezeichen, das uns antreibt, das Leben in vollen Zügen zu genießen – alles andere … Zeitverschwendung!
Cast & Crew
- Regie
- Uli Aumüller (Text)
- Redakteur/in
- Martina Seeber