Eine Stimme und 34 (+1) Gesichter

75 Jahre RIAS Kammerchor (Exposé für 10/23)

Im Oktober 2023 feiert der RIAS Kammerchor seinen 75. Geburtstag. Warum wird dieses Ensemble in einem Atemzug mit den Berliner Philharmonikern genannt, oder gilt als die Anne-Sophie Mutter oder Martha Argerich unter den Chören? Was ist der Unterschied zwischen einem guten Chor und einem schlechten? Oder in diesem Fall: zwischen den herausragenden und den besten Chören der Welt?

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1. Skizze des Filmes

Der Dirigent ruft nur eine Zahl, hebt langsam die Arme und holt dabei tief Luft – mit dem Ausatmen senkt er sie wieder nach unten, um sie dann sogleich mit einer ruckartigen Bewegung in die Höhe zu reißen, wo die ausgestreckten Zeigefinger im Takt des jetzt einsetzenden Gesangs Wellenlinien in die Luft malen.

Der Blick weitet sich zu einer Totalen in einer ehemaligen Fabrikhalle, das Berliner Motorwerk im Nordosten der Stadt, links der Dirigent, rechts der Chor, in zwei Reihen, vorne die Frauen, dahinter die Männer.
In einer langsamen Bewegung und nahen (close-up) Einstellung – nur Kopf und Schultern – schwenkt die Kamera die vordere Reihe des Chores ab, die Reihe der Männer im Hintergrund dahinter leicht unscharf, aber durchaus erkennbar. Während der Chor insgesamt mit nur einer Stimme zu singen scheint, in einem Rhythmus atmet, ein Körper aus vielen Gliedern ist, könnten die Gesichter der Chorsänger und -sängerinnen unterschiedlicher nicht sein.

Müde und traurig fast die eine, jung und engagiert die nächste, jede Note, jeden Melodiebogen mit ausladender Gestik und Mimik unterstreichend. Eine schaut konzentriert in die Noten, und nirgendwo anders hin, als wäre sie ganz allein auf weiter Flur – während ihre Nachbarin die Stirn runzelt, immer wieder den Dirigenten im Auge hat, sich in die Haare fasst und beim „Halleluja“ lacht – die nächste steht wie eine Salzsäule, die Sängerin daneben scheint eher zu tanzen und zu wippen, findet ihre Töne aus der Bewegung des Körpers heraus.

Der Dirigent bricht ab, weil er entdeckt hat, dass die begleitende Harfe ein Viertelton tiefer gestimmt ist als die Röhrenglocken.

Mit der nächsten Szene sind wir bei einem der Sänger oder Sängerinnen zu Hause, oder im Garten. Verstreut über den ganzen Film beobachten wir die Sängerinnen und Sänger, wie sie sich auf ihre Partien vorbereiten. Alle sind sie ausgebildete Solisten. Einige von ihnen filmen wir auch bei ganz anderen Tätigkeiten, da sie neben dem RIAS Kammerchor noch andere Engagements haben. Sie sind außerhalb des Chores als Solisten unterwegs oder leiten Kinder- oder Laienchöre, unterrichten Schüler oder Schülerinnen. Der eine verkabelt riesige Soundsysteme für Konzerte, die andere sammelt historische Instrumente aus aller Welt, wieder ein anderer widmet sich nach den Proben seinen Bienenstöcken. Sie erzählen uns, wie sie zum RIAS Kammerchor kamen, was für sie das Chorsingen bedeutet, bei dem sie ihre solistischen Fähigkeiten der übergeordneten Identität des Chores unterordnen müssen, also einerseits einen Teil ihrer Individualität verlieren, dabei aber als Teil eines größeren Ganzen etwas gewinnen. Diese Serie von ausgewählten Schlaglichtern wird sich im Verlauf des Filmes zu einem Gesamtbild der Persönlichkeit des Chores zusammenfügen.

Dies wäre ein Strang, der sich durch unseren Film zieht – Statements oder Miniportraits einer Auswahl der Ensemblemitglieder, die gleichzeitig die Stichworte liefern für den zweiten Strang des Filmes, der sich mit der Geschichte des RIAS Kammerchors beschäftigt. Hierzu gibt es in den Archiven des RBB (Koproduktion, früher SFB) und Deutschlandradio (früher RIAS) einiges dokumentarisches Material. Es gibt auch einen Film, den in den 70er das Presseamt des Berliner Senats in Auftrag gegeben hatte. Und es gibt Zeitzeugen, die an den historischen Orten die Geschichten erzählen können, die sich jeweils dort ereignet haben. Zwei dieser Ereignisse wollen wir besonders herausgreifen:

- Die Kellerräume des Telegrafenamtes in der Winterfeldtstr. Berlin / Schöneberg, in welchen sich ab 1945 die ersten provisorischen Studios des RIAS befanden. Mehr als die damals 37 Sängerinnen und Sänger passten dort nicht hinein.

- Bei einem legendären Neujahrskonzert 1985 in der Philharmonie dirigierte Herbert von Karajan mit seinen Philharmonikern und dem RIAS Kammerchor das Magnificat von Johann Sebastian Bach. Die Transparenz und lebendig gegliederte Artikulation des Chores hatte sich von dem primär klangorientierten Spiel des Orchesters so weit entfernt, dass sich am Ende nur ein Ensemble als der eigentliche Träger der musikalischen Interpretation herausschälte, vor dem sich der Maestro respektvoll verneigte.

Unser Trailer zeigt auch den jungen Dirigenten des Kammerchors, Justin Doyle, der hier so ganz und gar nicht den kühlen Briten mit Understatement gibt, sondern mit Temperament, mitsingend, wortgewandt und mit vielen Gesten seinen Chor zu inspirieren versteht. Es entstehen dabei eben diese fein gezeichneten Klangstrukturen und Geflechte, für die Justin Doyle berühmt ist. Teil dieses Exposés ist eine Serie von Photos, deren mitreißenden emotionalen Gehalt wir nicht weiter kommentieren müssen. Neben traditionellen Konzerten von Händel-Oratorien oder Bach-Kantaten in der Berliner Philharmonie liebt er es, „seinen“ Chor mit sorgfältig inszeniertem Licht oder an ungewöhnlichen Orten zu präsentieren oder in kleinen Choreographien auf der Bühne oder um das Publikum herum zu bewegen. Darum wird es in dem dritten Strang unserer filmischen Erzählung gehen: Wir werden Justin Doyle, sein Team und Ensemble begleiten, wie sie Judas Maccabäus – eines der populärsten Oratorien von G.F. Händel –- nicht nur musikalisch, sondern auch szenisch vor- und aufbereiten, um mit dieser Musik ein heutiges und auch junges Publikum zu erreichen.

Der RIAS Kammerchor war früher ein Rundfunk-Chor, hat sich aber über die Jahrzehnte zu einem Konzertchor entwickelt, der es sich auf die Fahnen geschrieben hat, in die klassische Form eines Chorkonzertes frischen Wind hineinzublasen. Aus diesem Grund mag Justin Doyle es überhaupt nicht, als „Chorleiter“ bezeichnet zu werden – er leitet, er dirigiert, er inszeniert die Konzerte des Chores, mit und ohne Orchester, er denkt sich nicht nur die Programme aus (nicht er allein, mit seinem Team), sondern er fragt sich, wie man – was ihm am Herzen liegt – auf eine lebendige Art und Weise an die Leute bringt, wie man sie begeistert.

In unserer TV-Dokumentation (60 mins.) wollen wir vor allem das herausragende musikalische Ereignis begleiten, das dieser Chor aus Anlass seines 75-jährigen Jubiläums aufführen wird. Eingeflochten in dessen Entstehungsprozesse erzählen wir in Rückblenden die Geschichte des RIAS Kammerchors.

Für die Webseite von ARTE Concert wollen wir dieses musikalische Ereignis komplett aufzeichnen. Vorbereitend dazu werden in einer Serie von 34 plus 1 kurzen fünfminütigen Portraits die einzelnen Individualitäten dieses Chores präsentiert (alle Sängerinnen und Sänger plus den Dirigenten - 5 in der Woche). Diese 35 Einzelportraits werden sich aus vielen Perspektiven mit der Frage beschäftigen: „Was macht das Chorsingen, so wie es in Europa erfunden und entwickelt wurde, eigentlich aus?“ – die Polyphonie, die gleichzeitig zu hörenden vielen einzelnen Stimmen, die ihre Eigenart bewahren und entfalten, aber zwanglos zu einer höheren Einheit, zu einem Großen und Ganzen verbunden sind, meint ja genau das: Die Einheit in der Vielfalt, und im besten Falle ein Über-Sich-Selbst-Hinauswachsen des Einzelnen im Kollektiv, eine Pulsation zwischen Einsam und Gemeinsam, zwischen Geben und Nehmen. Als ein gemeinsames Element, das sich durch all diese Portraits zieht, wird jeder Sänger, jede Sängerin ihren Part aus der 40-stimmigen Motette Spem in alium des britischen Renaissance-Komponisten Thomas Tallis solo vortragen, die um das Jahr 1570 für 8 Chöre zu je fünf Stimmen komponiert wurde. Gedacht ist daran, jeweils am Ende von 5 Portraits einen fünfstimmigen Chor einzeln aufzuführen – und am Ende aller Portraits die Einspielugn der 8-chörigen 40-stimmigen endgültigen Fassung (10:00 mins bis 14:00 mins, je nach Interpretation).

Gemeinsam mit einem der besten Chöre oder vielleicht dem besten Chor dieser Welt suchen wir nach einer Antwort auf die Frage: Worin besteht das besondere Erlebnis, die besondere Qualität des Chorsingens eigentlich? – und zielen damit auf ein denkbar großes Publikum, denn zum Beispiel allein in deutschen Chorverband sind über eine Million aktive Chorsängerinnen und Chorsänger organisiert: unsere potentiellen Zuschauerinnen und Zuschauer.

2. Geschichte des RIAS Kammerchores

Hat ein Chor eine Persönlichkeit, eine unverwechselbare Individualität, so wie ein berühmter Pianist, eine berühmte Geigerin? Manche Chöre haben eine solche Persönlichkeit, vor allem die besten unter ihnen. Sie ist zum Greifen nahe, wenn man sie hört, aber schwer zu beschreiben, wenn man sie erzählen soll. Im Falle des RIAS Kammerchores, der Martha Argerich unter den Chören, ist es nicht nur der unverwechselbare Klang, die Strahlkraft und dabei Klarheit der musikalischen Textur und die Besonderheit des (schier endlosen) Repertoires – im Falle des RIAS Kammerchores hört man auch Geschichte, man hört einen Chor, der seit bald 75 Jahren wie kaum ein anderes Ensemble im Brennpunkt steht sich überschneidender (welt-)politischer Entwicklungen und musikalischer Veränderung.

Am 7. Februar 1946 wird – in Kellerräumen des Fernmeldeamtes in der Schöneberger Winterfeldtstr. – der DIAS, Drahtfunk Im Amerikanischen Sektor gegründet, dessen Programm man über die Telefonleitungen, die den Krieg überstanden hatten, empfangen kann. Dazu gehören von Anfang an Chormusikproduktionen, die in den zwei sehr kleinen Studios live gesungen werden – allein schon aus Platzgründen hat der eigens dafür gegründete Chor eine überschaubare Zahl an Sängerinnen und Sängern. Genau 37 Menschen stehen, wie auf den wenigen Photos dieser Zeit zu sehen ist, dicht gedrängt um ein einziges Mikrophon. Der Chor singt alles, was es für Chor zu singen gibt: Unterhaltungsmusik, Schlager, romantische Lieder, Klassik, Mozarts Ave verum als erstes, Barockmusik – und von Anfang an zeitgenössische Musik, also neue Kompositionen, Werke, die entweder in der Nazi-Zeit in den Schubläden liegen geblieben waren, die verboten gewesen waren – oder Werke, die erst neu entstanden. Die Verantwortlichen der amerikanischen Militärverwaltung wollen in ihrem Sektor eine Kultur gedeihen lassen, die ihren Begriffen von Freiheit und Demokratie entspricht – um den Ungeist des NS-Regimes aus den Köpfen der Menschen zu vertreiben und eine Alternative anzubieten zu der Propaganda aus dem sowjetischen System im Ostteil der Stadt.

„Zur festen Einrichtung wurde der Chor am 15. Oktober 1948, mitten in der Zeit der Berlinblockade, die mit materieller Not auch politische Unsicherheit brachte: an diesem Tag erhielten 37 Sängerinnen und Sänger von der amerikanischen Gewährsmacht des Senders feste Anstellungsverträge. Ein wichtiges Signal.“

Eingestellt werden durchweg ausgebildete Sänger, die zuvor unter anderem an Opernhäusern solistisch tätig waren. Einige unter ihnen sind im Krieg verletzt worden, können nicht mehr auf einer Bühne auftreten – oder aber die Bühnen existieren nicht mehr. Es wird erzählt, dass der Chor aus diesem Grunde anfänglich einen eher inhomogenen Klang gehabt hätte, weil ihre Mitglieder dazu neigten, sich gegenseitig zu übertönen, als sich einem gemeinsamen Ensembleklang einzufügen.

„Möglich war die Chorgründung aber nur, weil die Schutzmächte der Kultur im Wiederaufbau des materiell und geistig zerstörten Deutschlands einen hohen Stellenwert einräumten. Der RIAS spielte in diesem Zusammenhang in den Westsektoren Berlins eine entscheidende Rolle. Er gründete außer dem Kammerchor auch das RIAS-Symphonie-Orchester, das seit 1993 Deutsches Symphonie-Orchester Berlin heißt, und das RIAS-Tanzorchester, das sich inzwischen RIAS BIG BAND nennt.“

Ur- und deutsche Erstaufführungen unter anderen: Hindemith Requiem (57), Schönberg Moses und Aron, Krenek Kafka-Motetten, Penderecki Dimensionen der Zeit und der Stille, Henze Novae de infinito laudes, Dallapiccola Canti di liberatione, Stravinsky A Sermon, A narrative and a prayer, Zimmermann Requiem für einen jungen Dichter (69).

Die kleine Besetzung des RIAS Kammerchor mit anfangs 37 Stimmen, die eher den beschränkten finanziellen Mitteln und der Größe der Aufnahmestudios geschuldet war, ist noch in den 50er und 60er Jahre eher ein Nachteil, da entsprechend der prägenden musikalischen Vorstellungen etwa eines Herbert von Karajan oder Karl Richter ein sattes, voluminöses romantisches Klangideal verfolgt wird. Erst mit den frühen 70ern, mit dem Aufkommen der historisch informierten Musizierweise etwa durch Nikolaus Harnoncourt, werden Bachkantaten oder Oratorien nicht mehr mit 100-stimmigen Chören aufgeführt, sondern orientieren sich an den zu Lebzeiten von Bach praktizierten Besetzungen. Mit nur zwei, drei oder maximal vier Sängern je Stimme lassen sich polyphone Chorsätze wesentlich beweglicher, lebendiger und transparenter gestalten, als mit einer großen Masse an Sängern, wie es bis dahin üblich war. Aus musikhistorischen und ästhetischen Gründen hätte dieser Chor nicht größer sein dürfen.

Neben Harnoncourt verändert der charismatische schwedische Chorleiter Eric Ericson zu dieser Zeit die europäische Gesangskultur – sein Ideal eines absolut homogenen Klangbildes der Chorstimmen und seine Idee, dass die Interpretation der Musik dem Verständnis des Textes folgen müsse (sowohl bei den Sängern, wie bei den Zuhörern), beeinflussen neben vielen anderen Chorleitern auch Uwe Gronostay, der aus Bremen kommend bei Harnoncourt gelernt hat und nach dem Erlebnis nur einer Rundfunkübertragung zu einem Verehrer (und später Freund) Ericsons wird. Gronostay übernimmt 1972 die Leitung des RIAS Kammerchores, bis ihm 1986 Marcus Creed nachfolgt.

Wie weitgehend sich der RIAS-Kammerchor in einem anderen musikalisch-ästhetischen Kosmos bewegt als viele andere renommierte Klangkörper der Stadt, erzählt folgende kleine Begebenheit. Als Herbert von Karajan 1985, am 1. Januar, mit dem Chor und seinem Orchester das Magnificat von Johann Sebastian Bach aufführt, schreibt ein Kritiker im Berliner Tagesspiegel:

Beim Magnificat, einem der ersten Werke, die Bach 1723 für Leipzig komponierte, sorgte dagegen der RIAS-Kammerchor für die bislang fehlende Phrasierung ... Die Philharmoniker allerdings spielten nicht anders, als sänge statt des schlanken und beweglichen RIAS-Kammerchores immer noch der größere und schwerfälligere Wiener Musikvereinschor, den Karajan sonst bevorzugt. Die Diskrepanz zwischen dem primär klangorientierten Spiel des Orchesters und der gegliederten Artikulation des Chores war zumindest für den Rezensenten lehrreich. Da der RIAS-Kammerchor auch die großen dramatischen Kontraste ... auf das schönste realisierte, profilierte er sich, wie Herbert von Karajan mit seinem Schlussbeifall richtig signalisierte, als der eigentliche Träger dieser Bachinterpretation.

Diese Zeilen sind ein frühes Indiz dafür, dass der RIAS-Kammerchor, zumindest im Kontext der Berliner Kulturszene, seinerzeit zu den Vorreitern einer neuen Ästhetik gehört - eines Stilwandels, der natürlich eine Menge Konfliktstoff bereithält. So wie sich hier die interpretatorischen Ansätze von Chor und Orchester aneinander reiben, so kontrovers wird das Thema in der Öffentlichkeit diskutiert. Schönsingende Intelligenz titelt der Tagesspiegel mit den Worten Gerd Albrechts seinen Artikel zum vierzigjährigen Jubiläum des Chores in der Saison 1988/89, die zugleich den Beginn einer eigenen, den Status eines selbstständigen Konzertchores festigenden Abonnementreihe mit sich bringt: Über die Ziele heißt es damals noch, das Ensemble wolle in Aufführungen barocker Musik das Publikum davon überzeugen, dass es durchaus möglich ist, historisierende Instrumental- und Klangphilologie der Spezialisten mit den Hörerwartungen eines modernen Publikums zu versöhnen.

Und diese Begebenheit erzählt eine Veränderung, die das Selbstverständnis und Funktion des Chores betrifft. In den ersten Jahrzehnten seiner Existenz hatte der RIAS Kammerchor vor allem den Interessen des Radiosenders RIAS gedient, hat also alles gesungen, was der Sender für seinen Radiobetrieb braucht. Alles singt er nur einmal, bis es „im Kasten“ ist, und widmet sich gleich den nächsten Aufgaben. Heute Schönberg, morgen Operette, übermorgen Volkslieder – und natürlich die Literatur für Chor und Orchester mit dem hauseigenen Rundfunkorchester. Gefördert durch die besondere Insellage von West-Berlin, beginnt der Chor neben seinen Rundfunkverpflichtungen eine umfangreiche Tourneetätigkeit, und übernimmt dabei sozusagen eine musikalisch-kulturelle Botschaftertätigkeit – entsprechend heißt ein Film über den Chor, der im Auftrag des Berliner Senatspresseamtes 1978 entsteht: RIAS Kammerchor als musikalischer Botschafter Berlins.
1963 Coventry – 1966 Paris – 1967 Oxford – 1971 Südfrankreichtournee – 1976 Breslau – 1976 Flandern / Frankreich – 1980 Los Angeles – 1982 Madeira – 1983 Frankfurt, Gent, Brüssel, Düsseldorf - 1986 Warschau – (Die Liste lässt sich beliebig verlängern, siehe Anhang dieses Exposés ….)

Es mag eine Rolle spielen, dass der RIAS Kammerchor relativ klein ist – und er von daher relativ kostengünstig als musikalischer Repräsentant West-Berlins (im Vergleich etwa zu einem Orchester) durch die ganze Welt reisen kann – gleichzeitig gewinnt der Chor durch die Fülle der internationalen Auftritte an Reputation, Selbstverständnis und Weltläufigkeit – denn kaum ein anderer Chor weltweit ist so viel auf Reisen und auf den Bühnen aller Kontinente unterwegs wie eben der RIAS Kammerchor.

Ab den frühen 70ern wandelt sich der Chor zu einer eigenständigen musikalischen Institution, die vor allem singt, was nur ein professioneller Chor mit seinen 37 ausgebildeten Solostimmen singen kann – also klein besetzte Chorwerke der vorklassischen Epochen – vom Mittelalter bis zur Klassik einerseits, und andererseits neue Werke von lebenden Komponisten, deren Vokalwerke in der Regel von Laien- oder halbprofessionellen Ensembles nicht bewältigt werden können.

Der RIAS Kammerchor begründet eigene Konzertreihen, geht mit eigenen Programmen auf Tourneen, geht Kooperationen ein unter anderem mit dem Freiburger Barockorchester oder der Akademie für Alte Musik Berlin. Es werden gastweise externe Dirigenten eingeladen, etwa René Jacobs, Roger Norrington oder Philippe Herreweghe. Harmonia Mundi France veröffentlicht die meisten seiner CD-Produktionen. Vorbei sind die Zeiten, da dieser Chor vor allem für den Bedarf des Musikarchivs im RIAS Berlin gearbeitet hat (für den er allein bis 1986 rund 400.000 Kilometer Tonbänder besungen hat). Vorbei ist auch die Zeit der vollständigen finanziellen Abhängigkeit vom Radio Im Amerikanischen Sektor. Mit der Zusammenfassung des Deutschlandsenders Kultur und dem RIAS Berlin zum Deutschlandradio Berlin geht der RIAS Kammerchor auf in der Rundfunk Orchester und Chöre gGmbH, kurz ROC, die vom Deutschlandradio, und zur Hälfte aus Mitteln des Bundes und des Landes Berlin finanziert wird. Den Rest des Budgets trägt mit rund 5 % der Radio und Fernsehsender Berlins und Brandenburgs RBB. Allein an der Konstruktion seiner Finanzierung lässt sich ablesen, dass es sich bei dem RIAS Kammerchor schon längst nicht mehr um einen regionalen Rundfunkchor handelt, sondern ähnlich den Berliner Philharmonikern um eine musikalische Institution von nationaler Bedeutung.

Genau genommen lebt der RIAS nur in dem Namen des Kammerchores fort, wenn man von einem großen nachts blau leuchtenden Schild auf dem Dach des Hauses am Innsbrucker Platz in Berlin Schöneberg absieht, in dem jetzt das Deutschlandradio Berlin untergebracht ist. Die Schönheit der Interpretationen des RIAS Kammerchors verleiht ihm Ewigkeit.

Berlin, 09.02.2022 © RIAS Kammerchor / inpetto filmproduktion


Tourneen in Städte innerhalb und außerhalb Deutschlands seit 2002 (Auswahl)

2002 Wroclaw, Brüssel, Rom, Köln, Poissy, Paris, Madrid, La Roques d'Anthéron

2003 Nantes, Turin, Bilbao, La Roques d'Anthéron, Bregenz, Linz, Wien, Utrecht, Rotterdam, Bologna, Mailand, Luzern

2004 Poissy, Nantes, Metz, Madrid, Lissabon, Brügge, La Roques d'Anthéron, La Chaise Dieu, Vézelay, Köln, Poissy, Lissabon, Innsbruck, Bregenz, Bourges, Amsterdam, Utrecht

2005 Paris, Nantes, Köln, Brüssel, Paris, Hamburg, Lörrach, Vaduz, Breda, Antwerpen

2006 Nantes, Lissabon, Tokio, Salzburg, Utrecht, Amsterdam, Rotterdam, Essen, Lille, Namur, Soissans, Atlanta, Oxford/Miss., Nashville, San Francisco, New York, Rochester, Montreal, Toronto

2007 Köln, Lissabon, San Sebastian, Paris, Brügge, Utrecht, Brüssel, Amsterdam, Perugia, Paris, Amien, Essen, Lissabon, Dortmund, Antwerpen, Utrecht, Groningen, Eindhoven

2008 Magdeburg, Frankfurt, Baden-Baden, Leipzig, Nürnberg, Essen, Valladolid, Köln, Brüssel, Paris, Köln, Freiburg, Rom, London

2009

2010 Dresden, Jerusalem

2011 Köln, Seoul

2013 Beirut

2016 Zürich, Essen, Paris, Amsterdam, Wiesbaden, Baden-Baden, Luzern, Dijon, Lyon

2017 Frankfurt, Barcelona, Danzig, Paris, Budapest

2018 Rotterdam, Amsterdam, Essen, Freiburg, Paris, Madrid, Tokio, Kanasawa, Osaka

2019 Budapest, Gera, Dresden, Linz

Cast & Crew

Regie
Uli Aumüller
Kamera
Sebastian Rausch
Musik
Justin Doyle